Fastenzeit im Colos-Saal Aschaffenburg? Weiß Gott nicht!

Hallo Real Music Lovers, was haben Musik und Politik gemeinsam? Wenn Ihr mich fragt: Sie polarisieren massiv und fahren an den Rändern in extreme Richtungen.

Keine Bange, heute geht es nicht um Politik, heute gibt es ein paar verhalten satirische und doch sehr ernst gemeinte Gedanken über die Musik und unser wunderbar vielfältiges Publikum, über Leidenschaften, Emotionen, Erleben, Genuss, Ärger und ja, um Polarisierung und Extreme. Denn was manche Musikfans als virtuose Sensation empfinden, schreckt andere als elendes Gefrickel ab. Was für die einen unerträglich brachial ist, empfinden andere als zutiefst entspannend. Manche fühlen bei bestimmten Klängen größtmögliche Wonne - Klänge, die bei anderen Leuten gähnende Langeweile auslösen. Unser Publikum ist wirlich sehr bunt und wir lieben diese menschliche Vielfalt voller Filterblasen, Peer-Groups, Fan Bases, Exoten und Normalos, die uns täglich neu bei den Konzerten begegnet.

Doch gestattet zunächst einen kleinen Exkurs über unser Nicht-Publikum. Keine Ahnung, wieviele zigtausend Aschaffenburger*innen noch nie bei uns aufgekreuzt sind, obwohl es unsere Konzerte schon seit über 38 Jahren gibt. Wer für Musik nicht empfänglich ist, käme natürlich nie auf die Idee, dafür auch noch Eintritt zu zahlen. Akzeptiert. Wer auf Schlager und volkstümliche Klänge steht, wird wenig bis nichts im Programm finden. Akzeptiert. Wer sich aber zu alt oder zu jung fühlt, liegt ziemlich daneben.

Meine Team-Kollegen sind immer wieder amüsiert, wenn sie ähnliche Sätze wie diesen zu hören kriegen: „Ach, im Colos-Saal arbeitest Du. Da wo die ´junge Leud` hingehen? In der Disco?“ Das Gerücht hält sich hartnäckig, insbesondere in den eher ländlichen Orten um Aschaffenburg herum, für die wir gemeinsam mit anderen Veranstaltern weiterhin noch viel musikalische Missionierung leisten müssen, bis ihre Bewohner im kulturellen „Neuland“ angekommen sein werden. Schmeichelhaft allerdings für die Ü-60er Generation, die mittlerweile bei einigen unserer Konzerte einen nicht unerheblichen Teil des Publikums ausmacht?

Manche Leute können einfach nicht rechnen. The Sweet beispielsweise wurde im Jahr 1968 gegründet und hatte ihre beste Zeit Anfang der 70er Jahre. Die 16- bis 18-jährigen Teenies, welche ab 1972 total auf den Glamrock der Band abgefahren sind, sind halt nun mal heute, 50 Jahre später, musikbegeisterte Renter zwischen 66 und 68 Jahren, die den Löwenanteil des Publikums beim sicher wieder ausverkauften Konzert stellen und die Band (sowie sich selbst) gewaltig abfeiern werden. Ist es ja immerhin die x-te Abschiedstournee und es könnte ja mal wirklich die letzte sein. Da will man doch dabei gewesen sein.

Ganz ehrlich: Wenn es um Emotionen und Leidenschaft geht, sehe ich keinen großen Unterschied zum dem Publikum, das wir am zweiten Märzwochenende bei den beiden, längst ausverkauften Rap-Konzerten mit Mehnersmoos und Vega erleben werden. Nur ist dann eben die eventuell etwas gelenkigere und im Gürtelbereich weniger umfangreiche Altersgruppe der 16- bis 25-jährigen am Start. Die „junge Leud“ halt. Da sind sie dann doch und gleich in hoher Anzahl.

Bei den beiden Beispielen ist die ungefähre Zuordnung noch einfach, schwierig wird es in unserem Programmschwerpunkt Progressive Rock. Während die Punks der 80er Jahre immer noch damit angeben, die komplexen musikalischen Strukturen solcher ab den späten 60er Jahren entstandener Prog Bands mithilfe ihren eigenen, schnellen Drei-Akkorde Songs ein für alle mal von der Szene weggefegt zu haben, erlebt das Genre seit etlichen Jahren weltweit seine Wiedergeburt inklusive Generalüberholung, vermischt sich mit Metal, Folk, Klassik oder sogar World Music, erneuert sich rasant und zieht Musikliebhaber an, bei denen ein normaler Rock- und Popsong schnell zu gähnender Langeweile führt. Im beinahe akademisch rezipierenden Publikum sind Kenner am Start und zwar jeden Alters. Tja, liebe Punks, das war wohl nix. Anspruchsvolle Musik findet weiterhin sein Publikum. Nix ist weggefegt (aber selbst anspruchsvolle Veranstalter mögen gelegentlich schnelle, knallige Punkbands auf der Bühne – zugegeben).

Der Colos-Saal gilt ja in aller Bescheidenheit selbst in der internationalen Szene als Hotspot für Proggies, Art- und Postrocker und in den nächsten Monaten zeigen wir mit Soen (inklusive Streichquartett), mit Lizzard & O.R.K., mit Mystery, The Watch, Threshold, Pavlov`s Dog, Lazuli, Echoes sowie Mono aus dem fernen Japan die Vielfalt und Internationalität des Genres. Allerdings müsst Ihr auf zwei Höhepunkte noch bis September warten, denn wenn am 13.9. die Australier von Unitopia gemeinsam mit den Gaststars Alphonso Johnson am Bass (spielte u.a. bei Weather Report, Santana und Phil Collins) und Chester Thompson am Schlagzeug (spielte u.a. bei Frank Zappa, Eric Clapton, Donna Summer, den Bee Gees und Genesis) zu uns kommen, wird es sicher spannend und absolut hochkarätig. Persönlich empfehle ich die fantastischen und vor Ideenreichtum sprühenden Briten von Big Big Train, die wir uns schon sehr, sehr lange für die Colos-Saal-Bühne wünschen. Am 7. September wird es nun endlich so weit sein.

Fachkundiges und altersloses Publikum begrüßen wir auch bei unseren Jazzrock/Fusion Konzerten, zumal der Colos-Saal seit seiner Gründung immer wieder und sehr gerne die besten Musiker dieser Sparte „sammelt“. Das kann man übrigens hier nachschauen: https://colos-saal.de/service-info/hier-spielten-bereits.html

Wir vermuten, dass die meisten Besucher, die nach Ende dieser Konzerte ehrfürchtig, meist mit Glanz in den Augen und unheimlich dankbar den Saal verlassen, selbst ein Instrument spielen. Als Hobby, aus Leidenschaft oder sogar professionell. Irgendwie erinnern solche Konzerte auch an Meisterkurse von überirdisch spielenden Instrumental-Gurus, deren Fähigkeiten die Besucher nie im Leben erreichen werden, so sehr sie auch üben. Die Leckerbissen der nächsten Wochen sind rein instrumentale Allstar Bands des Genres, wie das Dave Weckl/Tom Kennedy Project, Simon Phillips – Protocol V oder die Scott Kinsey Group und irgendwie gehört erstaunlicherweise auch die bereits im letzten Newsletter erwähnte Aschaffenburger Drummerin Anika Nilles zunehmend in diese Kategorie. Ganz aktuell ist sie sogar für den Deutschen Jazzpreis nominiert.

Wer hier Gesang vermisst und trotzdem übertalentierte Musiker erleben möchte, kann es mit den herrlich groovenden Dirty Loops aus Schweden oder mit Candy Dulfer und ihrer vielköpfigen Band aus Holland versuchen und dabei sogar noch den ganzen Abend durchtanzen. Auch im harten Metal gibt es gefeierte Instrumentalkönner, insbesondere superschnelle Saitenartisten, bei denen Otto Normalgitarrist und sogar den meisten professionell arbeitenden Musikern nur noch der Mund offen stehen bleibt und Schnappatmung einsetzt.

Doch Achtung: Wer ausschließlich Rock- und Popmusik bekannt aus Funk- und Fernsehen gerne hört, wird bei den vorgenannten Acts spätestens nach ein paar Minuten Konzert möglicherweise völlig überfordert und fluchtartig den Saal verlassen, weil er das Gehörte als grauenhaft empfinden wird. Verärgerte Besucher, die sich ins falsche Konzert verirrt haben. Die gibt es gelegentlich, wenn auch sehr selten. Da müssen wir durch. Das halten wir aus.

Als Veranstalter frage ich mich oft, wie der einzelne Besucher und die einzelne Besucherin persönlich die Atmosphäre im Colos-Saal erleben? Wer gerne unsere Tributebands besucht, den ganzen Abend mitsingt und jeden Ton kennt, sich tanzend bewegt und dabei das eine oder andere Bierchen konsumiert, wird unseren Laden gewissermaßen als Event-Club verstehen und möglicherweise gar nicht wissen, dass es am nächsten Abend sehr ruhig und andächtig zugehen kann und wir beispielsweise auch vollbestuhlte, andächtige Konzertatmoshäre im Programm haben.

Auch wenn wir nie ein reiner Rockladen sein wollten, zählt der Colos-Saal in diversen Magazinen und ihren Polls zu den Top-Ten-Metal Clubs in Deutschland. Und wir lieben dieses absolut stressfreie, angenehme, wild aussehende, doch völlig coole Publikum und seine Disziplin sowohl in der Warteschlange wie auch im wildesten Moshpit. Spätestens seit den liebevollen Wacken-Dokumentationen, die im Fernsehen und im Kino zu sehen sind, wissen selbst Nicht-Insider, dass die martialischen, bunten Bandlogos auf schwarzen Klamotten keine Aggressivität, sondern eher Lifestyle, Humor und identitätsstiftende Gruppenzugehörigkeit signalisieren. Guckst Du: https://www.zdf.de/kultur/musik-und-theater/wacken-der-film-100.html

Bei unseren ersten Metal-Konzerten in den 90er Jahren, waren unsere Nachbarn ziemlich skeptisch, als die Fangruppen vor dem Colos-Saal anstanden. Heute, knapp drei Jahrzehnte später, freuen sie sich über die gut gelaunten, schwarz-bunten gewandeten Vögel und ihre zu Gesicht getragene Vorfreunde aufs Konzert. Heute gehören die vielen Metal Fans in der Aschaffenburger Fußgängerzone zum gewohnten Stadtbild. Sie haben in den nächsten Wochen und Monaten beispielsweise bei Bloodbound, den Grailknights, Geoff Tate, Ensiferum, Visions Of Atlantis, Tankard, Boris & Pupil Slicer usw. viele Gelegenheiten für einen erneuten Besuch in der City.

Die "Mettler" kriegen natürlich volle Kanne Lautstärke und Lichteffekte von uns, wenn sie ihre Gigs besuchen und würden sich wahrscheinlich sehr über die völlig veränderte, ruhige, entspannte, teilbestuhlte Konzertatmosphäre wundern, die wir beispielsweise im März bei der Liedermacherin Sarah Lesch oder bei dem Mundart Songwriter Oimara, beim sizilianischen Song-Poeten Pippo Pollina und seinem Palermo Acoustic Quintet oder beim amerikanischen, von Blues und Soul beeinflussten Singer-Songwriter Marc Broussard und seiner Wahnsinnstimme herzustellen wissen. Ich behaupte, sie würden den Laden kaum wieder erkennen. Und wenn dann noch die Neo Folk Band Billow Wood den Colos-Saal für einen Abend in einen irischen Pub verzaubert, dann soundso nicht mehr.

Tributebands haben wir auch im Programm und wir wissen, dass manche Live-Musik-Fans bei den sogenannten Coverbands abwinken und sie nicht richtig ernst nehmen wollen. Das sehen wir anders und nehmen die besten gerne in unser Programm auf, vor allen Dingen, wenn sie aus der Region kommen und unsere Musiker-Buddies in den Bands spielen. Wir versuchen bewusst, den Anteil im Gesamtprogramm niedrig zu halten. Zu verführerisch sind Coverbands für Veranstalter, weil man werbetechnisch gesehen einfach nicht viel erklären muss. Es hat durchaus seinen Reiz für das Publikum, die Lieblingsmusik seiner musikalischen Idole nicht in großen Stadien sondern in kuscheligen Clubs und damit wesentlich intensiver zu erleben und dabei festzustellen, dass die Musiker der Coverbands gelegentlich sogar besser spielen und unterhalten können als die Originale und obendrein nur einen Bruchteil der für die Stars fälligen Ticketpreise kosten. Und es hat offensichtlich enormen Reiz, einen Abend mit vielen anderen Fans zu verbringen, die auf die gleiche Musik abfahren, denn die Stimmung ist bei guten Tributebands meist bombig.

Was soll daran auch falsch sein? Im Jazz wird auch gecovert, nur verwendet man dort den Begriff „interpretieren“. Eine eher offene Auffassung des Coverns - das Umschreiben eines Stückes und die musikalischen Veränderungen bei den jeweiligen Songs - ist mir persönlich noch am liebsten. Darum arbeiten wir auch seit Jahren mit der Abtown-Houzeband zusammen, deren Stammbesetzung nicht einfach stur irgendwelche Hits eins zu eins nachspielt, sondern auf ihre jeweiligen Musiker-Gäste eingeht, vorher gar nicht probt und die Songs gemeinsam bei jedem Konzert neu entstehen lässt.

Das kann man auch als eigenständige Kunstform auf die Spitze treiben, wie die Band Scary Pockets aus LA es gerade im Netz vormacht. Sie arrangiert alle möglichen bekannten Songs der Rock und Popgeschichte zu funky Versionen um, wechselt ständig ihre hochkarätigen Begleitmusiker*innen und Sänger*innen und veröffentlicht seit 2017 fast wöchentlich neue Videos auf Youtube. Über 300 Songs haben sie dort schon hochgeladen, die insgesamt 250 Millionen mal angeschaut wurden. Eine unglaubliche Reichweite, die man bislang nur von den absoluten Superstars der Popwelt kannte. Am 25. Mai sind sie erstmals bei uns zu erleben – analog und in echt.

Das ist längst nicht alles und es gibt noch viel mehr: Heute Abend beispielsweise Splatter Pop mit den Blutjungs. Wir haben Celtic Folk Punk mit Ferociuos Dog im Programm, Americana mit Madison Violet, richtig lauten Spaß mit Knorkator, A Cappella mit Onair und den Flying Pickets im Saal und Naturally 7 im Stadttheater, Soul und Funk mit D/troit oder Thorbjörn Risager & The Black Tornado – beide übrigens aus Dänemark, Die Sterne mit Indie Pop, Folkrock mit Beat The Drum und Fiddler`s Green, Blues mit Big Daddy Wilson und Phillip Fankhauser, Ohrwurm Rock mit der Cutting Crew und und und ...

Der Club als Sehnsuchtsort unterschiedlicher Lebensstile und musikalischer Vorlieben, als Treffpunkt Gleichgesinnter, als Fluchtort aus dem Alltag und sei es nur für ein paar Stunden, als Kulturbühne oder als Partytempel, als Ort des Austauschs verschiedener Gruppen und Milieus untereinander und vor allen Dingen als Verursacher unterschiedlicher, doch meist starker Emotionen – alterslos, genreübergreifend und sich immer wieder erneuernd. Das ist es, was unser Team reizt und jeden Arbeitstag neu und spannend macht. Neue Besucher, neue Künstler und täglich neue Sounds und Atmosphären. Langweilig wird uns da nicht.

Größte Freude, das geben wir als Team gerne zu, machen uns die Besucher, die genau wie unser Booking Team ihre musikalischen Schubladen zu überwinden lernen, gemeinsam mit uns auf musikalische Entdeckungsreise gehen und wirklich kreuz und quer aus unserem vielseitigen Angebot Tickets ordern. Seit wir unser digitales Reservierungssystem betreiben, beobachten wir zunehmend Einzelpersonen und Paare, die sich mutig alles mögliche bei uns anhören, wobei sie uns mit ihren Sammelreservierungen oft verblüffende Konzertinteressen offenbaren und sich unvereinbar erscheinende, völlig unterschiedliche Stilrichtungen in den Ticketwarenkorb legen. Leute, wir lieben Euch!

Gehörst Du auch schon dazu?
Wir sehen uns auf den Konzerten.
Herzliche Grüße von
Claus Berninger und dem Colos-Saal-Team

Quelle: Colos-Saal